Die Absicht von Yoga ist, unser Bewusstsein zu erweitern. Dies bedingt, dass wir bereit sind, unsere eingeschränkte Sichtweise auf die Welt, uns selbst und unsere Mitmenschen zu verlassen um unsere Perspektive ausdehnen zu können.
Der Mensch ist jedoch ein Gewohnheitswesen. So denkt und handelt er lieber in gewohnter Weise, als sich an den ungewohnten Abgrund des Denkens und Verhaltens zu wagen. Warum denn eigentlich?
Obwohl sich in diesem modernen Lebenskontext die ständigen Bedrohungen auf unser Überleben weitgehend minimiert haben, funktioniert unser Gehirn und dessen Signalsendung immer noch instinktiv. In jedem unmittelbaren Moment einer Entscheidung - so insignifikant diese auch sein mag - erstellt unser Gehirn in nicht wahrnehmbarem Zeitraum die Kalkulation
geringster Widerstand + grösstmögliches Vergnügen/Wohlgefühl = richtig
Widerstand + geringes Vergnügen/Wohlgefühl = falsch
Dies geschieht aber immer nur in einer Kurzzeitperspektive und nicht auf einen längerfristigen Zeitraum ausgedehnt betrachtet.
So gehen wir beispielsweise lieber den bekannten Weg anstatt neue zu erkunden und dabei zu risikieren uns zu verirren (oder unbekannten Feinden zu begegnen:), essen gerne was wir bereits kennen (wir könnten uns ja vergiften:) und re-agieren mit uns vertrauten und angelernten Verhaltens- und Denkmustern (diese erforderen den geringsten Energieaufwand). Nicht immer sind diese vertrauten Sicht-, Denk- und Verhaltensweisen jedoch förderlich für eine friedvolle und gesundheitsfördernde Existenz und ein spontanes Interagieren mit dem momentanen Stimulus.
Auf dem yogischen Weg des Bewusstwerdens machen sich früher oder später auch bei allen von uns innere Schatten bemerkbar. Dies kann sich im Sinne von allgemeiner und undifferenzierter innerer Unzufriedenheit, Reibungen in Beziehungen oder (selbst-)schädigendem Verhalten äussern. Diese Schatten lagern über unserem innewohnenden Wohl- und Glücksgefühl und verdecken damit das innere Licht des Einklanges mit sich selbst und der Welt.
Die unbewusste Zuweisung der Verantwortung für unseren eigenen Missmut an eine andere Person (Partner, Kinder, Eltern, Lehrer, etc.), Selbstmitleid oder der verankerte Glaubenssatz, keine Einflussmöglichkeit auf unser eigenes Wohlbefinden zu haben, lassen uns an Ort und Stelle treten – wenn wir dies unter Umständen auch ungern zugeben. Wir alle möchten gerne glücklich sein, nur etwas dazu tun, das möchten wir lieber nicht.
Die Perspektive zu verändern klingt vielversprechend. Bloss ist das, wie wir sicher alle schon erfahren haben, einfacher gesagt und geschrieben, als umgesetzt.
Mein ayurvedischer Psychologielehrer hat manchmal – wenn jemand sein gedankliches Leidenskonstrukt zum Ausdruck gebracht hat – sarkastisch und sehr im Wissen der Unmöglichkeit gesagt; ‘So denk doch einfach anders.’
Der Weg des Yoga sowie die westliche Verhaltenspsychologie weisen darauf hin, dass allererstens die volle Verantwortung für unser eigenes Fühlen und Denken übernommen werden und die gesamte Situation mit allen Gegebenheiten akzeptiert werden muss, um die Macht des Geistes (zurück) zu gewinnen.
Die Herausforderung, den Missmut, die Angst, die Sucht oder das Unbehagen als Wachstumsmöglichkeit zu erkennen, anstatt vor der Klagemauer zu stehen und zu jammern, ist der Anfang jeder Transformation.
Straight roads do not make skillful drivers. Paulo Coelho
Dieser erste Schritt der Akzeptanz und Verantwortungsübernahme sind essentiell und unerlässlich für jeden darauffolgenden Schritt wenn wir wahrhaftig und nachhaltig reifen wollen.
Wenn wir festgestellt haben, dass längeranhaltende Unzufriedenheit in einem bestimmten Bereich oder in einer Beziehung vorhanden ist oder wir in einem Bereich stagnieren, aber noch wenig Klarheit besteht, was Ursache, Trigger und kausale Wirkungskette der Unzufriedenheit oder der Stagnation sind, braucht es danach Raum und Zeit um genauer hinzuhören und hinzuschauen;
Der Schlüssel zur Plattform für ein erweitertes Bewusstsein liegt – wie anfänglich erwähnt – im Wissen, dass wir (relativ betrachtet) als einfach strukturierte und biologisch bedingte Wesen im unmittelbaren Moment immer den Weg des geringsten Widerstandes (=geringste Gefahr) und des grösttmöglichen Glücksgefühls (Sicherheit) wählen. Sinnvoller wäre jedoch, unsere Entscheidung auf einen längeren Zeitraum hin betrachtet zu reflektieren, womit wir oft zum Schluss gelangen, dass der geringe Weg nicht unbedingt der förderliche und weise Weg ist.
Wieviel Widerstand kann also mein Geist ohne Angst und Überforderung tolerieren? Was zeigt sich dabei? Was lerne ich daraus? Wie fühlt es sich nach Aushalten oder Überwinden des Widerstandes (zum Beispiel in einer unbehaglichen Hüftöffner-Asana) an?
Sich gegen inneren oder äusseren Widerstand zu bewegen, ist nicht äquivalent mit Selbstbestrafung oder Rigidität. Sanfte Disziplin ist der Ausdruck, welcher für mich am besten umschreibt, wie wir mit Yoga unser Bewusstsein ausdehnen können. Im Alltag könnte das zum Beispiel bedeuten die Disziplin zu haben zu bleiben, wenn sich in uns auch ein starker Impuls zu fliehen oder davon zu laufen regt. Oder nur zu zuhören, auch wenn sich vor dem inneren Ohr und Auge längst eine Antwort oder ein Urteil geformt hat, welches nur darauf wartet, sein Recht zu behaupten.
Vielleicht bedeutet diese sanfte Disziplin, trotz vorhandenem Zweifel oder innerer Unsicherheiten (oder sogar Angst) eine unbekannte Reise anzutreten, eine neue Stelle anzunehmen, Nein zu sagen oder lediglich eine neue und scheinbar unerreichbare Yogastellung auszuprobieren (anstatt sich innerlich zu rechtfertigen, wieso diese genau heute und für mich nicht geht oder die Toilette aufzusuchen zum Zeitpunkt der Anweisung).
Die Schnellebigkeit unseres digitalisierten Zeitalters stellt unmenschlich hohe Erwartungen an das Individum, was sich auch in unserem inneren Wachstumsprozess in Form von Ungeduld bemerkbar machen kann. Unsere neuronale Strukturierung (Konditionierung) lässt sich jedoch nicht wie ein Download auf Knopfdruck verändern. Die Natur braucht für jede Veränderung ihre Zeit.
Kontinuierliche und wiederholte Impulse mit eben dieser sanften Disziplin und beständiger Übung sind also notwendig um diesen neuen Weg (die neue Synapse) als ‘richtig und ungefährlich’ anzuerkennen und auf unserer inneren Festplatte zu speichern. Geduld wird uns dabei zum treuesten Lehrer.
Als etwas vom Schönsten auf dem Yogapfad empfinde ich immer wieder von Neuem, dass er so unbegrenzt ist und bis an unser Lebensende führen kann. Davor gibt es kein endgültiges Ziel zu erreichen (vielleicht viele kleine Teilziele) und wenn wir den Prozess der inneren Auseinandersetzung mit Freude und Mitgefühl gestalten können, erinnern wir uns wieder, dass dieser Weg das eigentliche Ziel des Yogas ist.
Plant your own garden and decorate your own soul, instead of waiting for someone to bring you flowers. Veronica A. Shoffstall
Zusammenfassend gelingt ein Perspektivenwechsel also am ehesten wenn;
Zum Abschluss möchte ich gerne noch ein Gedicht mit Euch teilen, welches dies in seiner schlichten Einfachheit so schön zum Ausdruck bringt:
I walk down the street. There is a deep hole in the sidewalk. I fall in. I am lost... I am helpless. It isn't my fault. It takes forever to find a way out.
I walk down the same street. There is a deep hole in the sidewalk. I pretend I don't see it. I fall in again. I can't believe I am in the same place. But, it isn't my fault. It still takes me a long time to get out.
I walk down the same street. There is a deep hole in the sidewalk. I see it is there. I still fall in. It's a habit. My eyes are open. I know where I am. It is my fault. I get out immediately.
I walk down the same street. There is a deep hole in the sidewalk. I walk around it.
I walk down another street. Portia Nelson